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Buchempfehlung: "Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit"

„Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit“ von Carla Del Ponte

Auch in unserem Mietshaus stellen Nachbar:innen ausrangierte, kleine Kostbarkeiten auf die Briefkästen, um Vorbeilaufende zu erfreuen und zur Mitnahme aufzufordern. Neulich stand das Buch „Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit“ von Carla Del Ponte dort. Die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag kämpfte für die Anerkennung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda.

Außer dem Wort Gerechtigkeit sprach mich das Werk nicht so richtig an und ich ging flott meines Weges. Am nächsten Tag stand das bieder aussehende Buch (die Abbildung auf dem Cover zeigt den GerichtssaalI) mit seinen knapp 180 Seiten immer noch da. Als Sozialarbeiterin habe ich täglich mit Un-/Gerechtigkeit zu tun. Also griff ich zu, weil ich langsam witterte, etwas zu lernen. Ich las den temporeichen, realistischen und tatsächlich lehrreichen Horror in einem Rutsch durch.

Die ehemalige Kommissionnsteilnehmerin für Ermittlungen des Syrienkrieges hielt mir eines deutlich vor Augen: Ich habe mich damit abzufinden, dass es Menschen gibt, die unendlich skrupelloser sind als andere. Erstaunt hat mich, dass diese Verbrecher:innen gegen sich selbst ebenso schonungslos grausam sein können.Vor allem Folgendes hat mich dazu gebracht, das Buch weiterzuempfehlen: Carla Del Pontes Blick auf die Opfer von sexualisierter Gewalt im kriegerischen Kontext. Die Schweizerin zeigt auf, wie die Justiz von der Politik und der mit ihr einhergehenden Finanzierung abhängig ist. Das bedeutet, wenn es Politiker:innen nicht wichtig genug erscheint, Menschen vor sexualisierter Gewalt zu schützen, kann es die Justiz auch nicht tun – von Unabhängigkeit kann keine Rede sein.

Leider deckt sich diese Erkenntnis, die ich beim Lesen hatte, mit meinen Erfahrungen während der Arbeit mit dem Konstrukt UBSKM (Unabhängiger Beauftragter zu Fragen des sexuallen Kindesmissbrauchs: https://beauftragter-missbrauch.de). Bis heute kennen außerhalb der Szene immer noch zu wenige Menschen beispielsweise den Betroffenerat. Damals befürchteten wir Initiator:innen, dass es sich bei seiner Konstituierung nur um ein Feigenblatt und ein perfides Machtinstrument handeln wird. So ist es gekommen – aus finanziellen Gründen und wegen des politischen Willens.

Das Jugoslawien- und das Ruanda-Tribunal haben in ihren insgesamt über 20 Jahre andauernden Verfahren und Gerichtsurteilen bei der internationalen Justiz die Neuerung erreicht, das sexualisierte Gewalt als Völkermord sowie als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt sind. In der internationalen Rechtsprechung ist demnach angekommen, dass hier keine:r einen zu kurzen Rock angehabt und sich etwa die Suppe selbst eingebrockt hat. Aus Den Haag kam das klare, aufklärerische Signal an die nationale Rechtssprechung, von der inzwischen auch Betroffene außerhalb von Kriegsgebieten profitieren. Jetzt muss dieses Wissen nur noch bis in die letzte Polizeidienststelle durchsickern.

Noch einen allgemeineren Gedanken, der mir bei dieser bewegenden Lektüre kam, möchte ich zum Ausklang teilen: Opfer sexualisierter Gewalt sind in guter Gesellschaft mit Mutter Natur, die gerade ebenso vorm Ausverkauf steht wie Menschen in ärmeren Ländern, weil sie kein Recht auf Impfschutz haben. Während wir im reichen Teil der Erde den Luxus haben und uns aussuchen können, ob wir geimpft werden möchten. Gleichzeit müssen wir allerdings ohne Ende Plastikmüll für Schnelltest produzieren; es ist eben doch nichts umsonst.

In dieser unseren verrückten Welt hat mir das Buch „Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit“ auf jeden Fall geholfen, einmal weniger einen Knoten im Kopf zu bekommen. Ich werde einfach weiteratmen und weiterhin morgens für die kleinen Gerechtigkeiten in meinem Leben aus dem Bett springen. Danke an die Autorin und danke auch an meine lieben Nachbar:innen und ihren wunderbaren Kleinoden auf unseren Briefkästen!